“I don’t need any liberation”: Rückblick auf die Vorträge zum Thementag ‚Ukraine‘ in Kleve und Kamp-Lintfort am 23. März 2022

Das Engagement an der Hochschule, einen Thementag ‚Ukraine‘ zu gestalten, war groß. So fanden am vergangenen Mittwoch Vorträge an der Fakultät Kommunikation und Umwelt und der Fakultät Gesellschaft und Ökonomie statt.

Den Auftakt gestaltete Prof. Dr. habil. Khrystyna Dyakiv von der Nationalen Iwan-Franko-Universität Lwiw (Lehrstuhl für Interkulturelle Kommunikation und Translationswissenschaft). In ihrem Vortrag unter dem Titel „Ein Blick in die Geschichte und Gegenwart (und Zukunft?) der Ukraine” sprach sie in Kamp-Lintfort zu Beginn über Geschichte der Ukraine:  das ukrainische Territorium in Mittelalter und Neuzeit, die Ukraine als Teil der Sowjetunion, Hungersnöte und Tschernobyl. Anschließend wurden die Themen Orangene Revolution, Revolution der Würde, der Krieg in Gebieten Donezk und Luhansk seit acht Jahren und der Krieg seit Februar 2022 in der Ukraine besprochen. Als weiterer  Punkt wurde die Sprach(en)situation in der heutigen Ukraine behandelt. Zudem hat die Vortragende viel über ihre persönlichen Erfahrungen an den ersten Tagen des Krieges sowie die  Ankunft zusammen mit ihrer Tochter in  Deutschland und die Situation der Binnenflüchtlinge sowie der Geflüchteten ins Ausland mitgeteilt.

Von links nach rechts: Prof. Dr. Jakob Lempp, Prof. John Henry Dingfelder Stone und Prof. Dr. Eva Maria Hinterhuber

Der erste Programmpunkt auf dem Campus Kleve startete mit Prof. Dr. Jakob Lempp, Prof. John Henry Dingfelder Stone und Prof. Dr. Eva Maria Hinterhuber. Sie gaben jeweils ihre Einschätzung aus dem Blickwinkel ihrer Fachrichtungen auf den Ukrainekrieg ab. Prof. Dr. Lempp (Professor für Politologie mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen) bezog sich in seinem Kurzvortrag auf die Akteure im Ukrainekrieg und ihre Interessen. Er machte deutlich, dass die Antwort auf die Frage für die Gründe dieses Kriegs immer davon abhängen, wen man fragt und es dabei sehr unterschiedliche Antworten gäbe. Er eruierte zudem, welche möglichen Ausgänge dieser Krieg haben könnte: von der Niederlage der Ukraine bis hin zur Demokratisierung Russlands.

Prof. John Henry Dingfelder Stone (Professor für Rechtswissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationales und Öffentliches Recht) analysierte den Krieg aus der Perspektive des internationalen Rechts. Er sagte, dass es sich hierbei eindeutig nicht um eine spezielle oder gar noch humanitäre Militäroperation handeln würde, wie es Putin benennt, sondern um eine nach internationalem Recht illegalen Invasion eines territorialen freien Landes. Dem Narrativ, dass Putin in seinen Reden nutze, dass die Ukrainer von den Russen befreit werden wollen, widersprach er: „Ich lade doch auch niemanden in mein Appartement ein und greife ihn dann an.“

Weiterhin analysierte Prof. Dr. Eva Maria Hinterhuber (Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Gender Studies) das autoritäre System Putins und Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine aus einer Geschlechterperspektive und rückte zivilgesellschaftlichen Widerstand in den Fokus – besonders die Macht von Mütterprotesten, die es bereits in Russlands Vergangenheit gab und noch immer gibt. In der anschließenden Diskussion mit den Studierenden zeigte sich insbesondere die Sorge, dass Putin noch weitere Länder im Auge haben könnte. Zudem ging es um die Stellung der NATO in diesem Konflikt.

Es schlossen sich zwei Vorträge mit Diskussion an. Zuerst untersuchte Dr. Jan Niklas Rolf (wissenschaftlicher Mitarbeiter für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen) mit Hilfe einer Ereignisdatenanalyse den Konflikt in der Ukraine vor 2016 und stellte die verschiedenen verbalen und physischen Aktionen in diesem Konflikt zwischen der EU und der ukrainischen Regierung auf der einen Seite und den Aktionen der Separatisten und Russlands gegenüber und kam zu der Schlussfolgerung, dass Russland und die Separatisten im Konfliktverlauf deutlich aggressiver agierten als die EU und die Ukraine.

Anschließend präsentierte Prof. Dr. Hasan Alkas (Professor für Mikroökonomie mit dem Schwerpunkt Internationale Märkte) seine spieltheoretischen Überlegungen zum Ukrainekrieg und erörterte dabei insbesondere, wie sich die Sanktionen und starken Signale von der westlichen Welt auf Russland, auf den Kriegsverlauf ausgewirkt haben. Er resümierte, dass es in der Spieltheorie und diesem Konflikt keine Win-Win-Situation geben kann. Frühzeitige Sanktionen noch vor dem Angriff hätten den Krieg verhindern können, aber nach Beginn des Kriegs machen sie Putin noch aggressiver. Je länger der Krieg dauere, umso höher wäre der Preis für die Ukraine und umso mehr Zugeständnisse erwarte Putin, um seine Kriegshandlungen zu beenden. Zudem simulierte er verschiedene mögliche Kriegsverläufe bzw. -ausgänge, unter anderem auch den Verlauf eines atomaren Kriegs.

Abschließend berichtete Dr. Natalia Shyriaieva, Professorin für International Business von der National Technical University Charkiw in einem Augenzeugenbericht von ihrem Weg mit ihrer 8-jährigen Tochter aus der Ukraine über Polen an den Niederrhein, wo sie von Prof. Dr. Gregor van der Beek, aufgenommen wurde. Beide kennen sich und ihre Arbeiten seit Jahren. Sie schilderte, wie sich ihr Leben seit dem 24. Februar 2022 schlagartig änderte. Sie beschrieb Geräusche, wie man sie nur aus Filmen zu kennen vermochte und die Unsicherheit, ob man auf der Flucht angegriffen werden könnte. Seit dem 7. März 2022 fühlt sie sich sicher, weiß aber aktuell nicht, ob ihr Arbeitsplatz, ihre Universität noch unversehrt ist. Sie ist froh, dass sie hier aufgenommen und integriert wurde, hofft aber gleichzeitig auf ein schnelles Ende des Krieges.

Live aus der Ukraine wurde auch ihr Kollege Prof. Dr. Taras Danko, ebenfalls Professor für International Business per Video zugeschaltet. Er befindet sich aktuell nicht mehr in Charkiw, aber im Landesinneren in Sicherheit. Er zeigte sich erbost über den russischen Einmarsch und betonte: „I don’t need any ‚liberation‘“ (Ich brauche keine ‚Befreiung‘.). Er betonte, dass Charkiw zuvor eine lebendige Großstadt war und nun ein zerbombtes Zentrum hat. Er wünscht sich, dass bald Waffenstillstand herrscht und dass die ukrainischen Institutionen und Infrastruktur bald wieder aufgebaut werden könnte.

Die Veranstaltungen an der Hochschule wurden mit großem Interesse sowohl von Studierenden, Beschäftigten als auch der Öffentlichkeit aufgenommen. Weitere Veranstaltungen sind in Planung.