Nachhaltigkeit unter Stress – Diskussionen und Erkenntnisse zum 3. Ethiktag an der Hochschule Rhein-Waal

In ihrer Grundordnung bekennt sich die Hochschule Rhein-Waal zu Internationalität, Diversität und Heterogenität und setzt auf ein nachhaltig zukunftsgerichtetes Lehren und Forschen, bei dem das erforderliche Zusammenspiel von sozialen, ökonomischen und ökologischen Fragestellungen berücksichtigt wird.

Aus dieser Überzeugung ergibt sich eine ethische Handlungsweise, die im Grundsatz der Hochschule verankert ist. Folgerichtig ergibt sich daraus, dass an der Hochschule bereits zum dritten Mail der Ethiktag stattfand. Nach 2015 und 2018 zum ersten Mal digital ausgerichtet, lockte die Veranstaltung am 23. Juni 2021 mehr als 150 Teilnehmende in den virtuellen Raum, um über Themen zu debattieren, die uns in Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt aktuell umtreiben.

Das Motto der Veranstaltung griff Dr. Oliver Locker-Grütjen, Präsident der Hochschule, in seinen eröffnenden Worten auf. Befinden sich die Säulen Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt in Harmonie oder sind sie eher brüchig? Durch Klimaabkommen, Proteste wie ‚Fridays for Future‘ und das Formulieren von Nachhaltigkeitszielen auf unternehmerischer oder legislativer Ebene scheinen sie im Einklang. Dem gegenüber stehen altbekannte Faktoren wie Nationalismus, Einschränkungen von Freiheiten in totalitären Systemen und Handelsbarrieren auf der politischen Ebene.

Die Corona-Pandemie hat gezeigt, „mit welchem Willen und welcher Umsetzungsgeschwindigkeit im Angesicht einer unsichtbaren aber zeitnah wirkenden Bedrohung, Politik und Gesellschaft in der Lage sind, konsequent zu handeln“, so Locker-Grütjen. Dennoch stehen wir vor der Frage, ob beispielsweise Milliardeninvestitionen in einzelne Unternehmen (von Systemrelevanz?) klima- und gesellschaftspolitisch vertretbar sind und wie die nächsten Generationen in die Zukunft blicken. Denn diese steht vor massiven Herausforderungen, einerseits „ökonomisch, weil sie die wirtschaftliche Last der Pandemie werden tragen müssen, aber auch ökologisch, weil sie die Last des Klimawandels tragen müssen und gesellschaftlich, weil die Bildungsschere exzessiv auseinanderdriftet und damit ganze Generationen von einer Grundbildung und einem demokratischem Grundverständnis drohen abgeschnitten zu werden“, fasst er die Herausforderungen zusammen.

Den Blick auf die ökonomische Situation lieferte Prof. Dr. Achim Truger, Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung (SVR). Er beschrieb die Corona-Krise nicht nur als Gesundheitskrise, sondern auch als wirtschaftliche Krise. In seiner keynote mit dem Titel „Corona, Konjunktur und Transformation: Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik“ stellte er fest, dass die Wirtschaftsleistung 2020 um 4,8 Prozentpunkte sank, 2021 rechne der SVR bislang mit einem Anstieg um 3,1%, das Vorkrisenniveau werde wohl Anfang des Jahres 2022 wieder erreicht. Besonders wichtig zur Krisenbekämpfung sei in Europa der umfangreiche Einsatz von Kurzarbeit gewesen. Diese bedeutete zwar einen starken Rückgang der Arbeitsstunden je Erwerbstätigem, dafür aber auch einen relativ geringen Rückgang der Anzahl der Erwerbstätigen. Anders in den USA: Hier gab es einen massiven Rückgang der Anzahl der Erwerbstätigen und einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Herausforderungen, vor denen wir laut Truger jetzt stünden, seien Staatsverschuldung und Ungleichheit. Dennoch betont er, dass die „Staatsverschuldung in Deutschland wenig dramatisch sei“ und er aus ökonomischer Sicht Entwarnung geben könne: „Natürlich geht das nicht für die nächsten fünf Jahre so weiter. Aber: In der Finanzkrise vor etwas mehr als zehn Jahren lag der Schuldenstand bei über 80%, jetzt bei etwas über 70%“, schätzt Truger die Lage ein.

Mehr Sorgen mache er sich um Ungleichheit in der Einkommensverteilung: In den letzten 20 Jahren stieg das Realeinkommen der obersten zehn Prozent in der Einkommensverteilung um etwa 25 Prozent, bei den Einkommensgruppen im untersten Segment sei es seit dem Jahr 2000 sogar gesunken. Auch die Verteilung der Steuerlast habe sich durch Steuerreformen zwischen 1998 und 2015 verschoben: Die unteren 70 Prozent wurden belastet, die oberen 30 Prozent, vor allem die obersten 10 Prozent, wurden entlastet. Truger stellte fest, dass sich die Debatte vom tradierten Denken (u.a. Deregulierung, Sozialabbau) hin zu einer neuen Denkweise hin in Richtung einer konstruktiven sozial- und wirtschaftsverträglichen Bewältigung gesellschaftlicher Probleme entwickeln müsse. Die ökologische Transformation sei eine riesige gesellschaftliche Aufgabe, die nur gelingen könne, wenn man alle mitnehme und Länder wie Deutschland eine Vorbildfunktion einnähmen. Politisch zu klären sei allerdings die Finanzierungsfrage für einen Wandel. Truger bringt hier Kredite und einen moderaten Anstieg der Steuerbelastung im obersten Einkommensbereich ins Spiel. Abschließend betont er, dass es auf ein qualitatives Wachstum ankomme, dann könne es weiter ein Wachstum, aber im ökologisch guten Sinne geben.

Einem gesellschaftlichen Thema widmete sich Hochschulprofessor Dr. Jakob Lempp in seinem Vortrag über Populismus, einem zentralen Begriff des 21. Jahrhunderts. Nährboden dafür sei das Gefühl „Alles wird immer schlimmer!“ gepaart mit großen Sorgen um die Zukunft, Misstrauen gegenüber politischen Institutionen oder Strukturwandel und Globalisierung. Hinzu komme, dass es ein Angebot an populistischen Führungsfiguren und -parteien sowie Informationswege gäbe. Lösungsansätze bot Lempp in seinem Vortrag auf mehreren Ebenen, u.a. Medienkompetenzen und politische Bildung zu stärken.

In jedem Menschen steckt etwas Wertvolles und Gutes – Das ist die simple Grundidee von „Starkmacher e.V.“. Die staatlich anerkannte Organisation für außerschulische Jugendbildung hat sich auf die Fahnen geschrieben die Potenziale junger Menschen zu fördern und sie „stark“ zu machen – in Deutschland, Europa und weltweit. Von der Streitschlichterausbildung in Flüchtlingscamps in Jordanien bis hin zum Projekt „Coffee“ gegen europäische Jugendarbeitslosigkeit und zur Förderung nachhaltigen Wirtschaftens. Mitbegründer und erster Vorsitzender Christian Röser verdeutlicht in seinem Vortrag das Prinzip „Think global, act global“ als Eckfeiler des Vereins. Mit Hilfe von Spenden und staatliche Förderprogrammen setzt sich der Verein u.a. für Bildung im Bereich der nachhaltigen Entwicklung, Ökologie und Nachhaltigkeit ein.

Brot für die Welt“ ist das Hilfswerk der evangelischen Kirchen und in über 90 Ländern weltweit aktiv. Es setzt sich gegen Armut und für „Hilfe zur Selbsthilfe“ ein mit aktuell über 1.800 Projekten. Sabine Portmann und Friederike Barthalme beleuchteten in ihrem Vortrag insbesondere den Bereich des Fairen Handels. Seit 2007 ist Brot für die Welt Gesellschafter des Fair Handels-Siegels „GEPA“ und unterstützt damit soziale und ökologische Standards beim Anbau und Handel von zum Beispiel Kaffee oder Bananen. Darüber hinaus setzt sich die Hilfsorganisation für ein Lieferkettengesetz ein. Das zuletzt vom Bundestag verabschiedete Gesetz bezeichnete Barthalme zwar als einen „Paradigmenwechsel“, sieht gleichzeitig aber noch erheblichen Verbesserungsbedarf und schließt sich der Forderung nach einem europäischen Lieferkettengesetz an, damit insbesondere die Produzent*innen des globalen Südens von ihrer Arbeit leben können.

Alfred Schumm, der gelernte Biologe und Leiter des neu geschaffenen Fachbereiches „Innovation, Science & Technologies“ des World Wide Fund for Nature (WWF) machte in seinem Vortrag deutlich: Die Menschheit verbraucht in der Gesamtheit mehr Ressourcen als die Erde zur Verfügung hat. Mit Verweis auf das bekannte Zitat von Greta Thunberg „Our House is on Fire“ zeigt er, welche katastrophalen Folgen eine langfristige Erderwärmung von zwei Grad für die Erde hätte. Sein Fazit: Es ist unsere Aufgabe, das Wirtschaftssystem insgesamt so umzugestalten, dass dieses gemeinwohlorientiert arbeitet – als Mittel zum Zweck – damit ein gesellschaftliches Zusammenleben bei gleichzeitiger Respektierung planetarer Grenzen möglich wird. Dies sei Aufgabe von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen.

In den drei anschließenden Workshops ging es darum, was jeder einzelne in seiner unmittelbaren Umgebung tun kann, z.B. von Permakultur, nachhaltiger Gebäudesanierung, dem Betreiben von Streuobstwiesen bis zum Konsum fair trade-Produkten. Engagement ließe sich am besten herstellen, wenn es in selbstwirksamen Projekten auf kommunaler Ebene angesteuert wird.

In der abschließenden Diskussionsrunde wurde es dann politisch: Ist die Demokratie zu behäbig, um innovativ zu sein? Kann eine Politik, die versucht, die Interessen aller zu vertreten, wirklich etwas erreichen? Genügen Gesetze der Politik „von oben“ für einen Wandel und welche Rolle spielt unser Menschen- und Gesellschaftsbild dabei? Kann die Klimakrise bewältigt werden, ohne Jobs zu gefährden oder soziale Ungerechtigkeit zu schüren?

Klar ist, dass sich für ein Gleichgewicht der drei Säulen Gesellschaft, Ökonomie und Ökologie alle aufeinander zu bewegen müssen, Dilemma-Strukturen aufzubrechen sind, mehr Diversität bei den Akteuren vorherrschen müsse und auch junge Generationen an Gestaltungsprozessen teilhaben. Positives Schlussbild: Der Mensch ist in seiner Natur ein kooperatives Wesen mit einem Wunsch nach Zugehörigkeitsgefühl und Gemeinschaftssinn. Wenn diese Tendenz adressiert wird, kann viel erreicht werden.

Um diese spannenden Diskussionen fortzuführen, hat sich das Projektteam entschieden, im nächsten Jahr einen Ethiktag in Präsenz zu veranstalten. Termin ist der 22. Juni 2022 auf dem Campus in Kamp-Lintfort.