Exkursion Benin: Zwischen Hörsaal und Königreich

Der Auftakt könnte gegensätzlicher kaum sein: Hier der Campus der Hochschule Rhein-Waal in Kleve – klare Linien, Glas, Beton, Wissen in Modulhandbüchern. Dort Cotonou, Benins Wirtschaftsmetropole – Hupkonzerte, Grillduft, feuchte Erde, Mopeds im Zickzack. Dazwischen rund 5.000 Kilometer Luftlinie und ein Kosmos an Erfahrungen, den 23 Studierende und fünf Professoren der Fakultät Life Sciences und Gesellschaft und Ökonomie für zwölf Tage zu ihrem Hörsaal machen.

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Gruppenfoto der Studierenden und Professoren vor der monumentalen, bronzenen Amazonen-Statue in Cotonou an einem regnerischen Tag. Die riesige Figur einer Kriegerin ragt im Hintergrund in den Himmel.
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Ein fröhliches Gruppenbild vor einem Schulgebäude. Die Studierenden der Hochschule haben sich mit Dutzenden Schulkindern in beigen Uniformen gemischt; einige knien vorne, alle schauen in die Kamera.
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Studierende stehen im Kreis um ein großes, gemauertes Wasserbecken einer Fischzuchtanlage im Freien und blicken konzentriert auf die Wasseroberfläche. Im Hintergrund sind Palmen zu sehen.
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Eine traditionelle Zeremonie in einem Innenhof. Ein Mann in gemusterter Kleidung spricht in ein Mikrofon, gerichtet an eine Würdenträgerin, die unter einem bunten Sonnenschirm sitzt, während die Studierenden zuhören.
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Blick in eine große, moderne Industriehalle der Textilproduktion. Man sieht lange Reihen von weißen Spinnereimaschinen, an denen die Besuchergruppe in einem Gang entlangläuft.
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Die Exkursionsgruppe steht für ein Foto vor dem Eingang eines Universitätsgebäudes. Ein Schild über dem Eingang trägt die Aufschrift "Université de Parakou - Faculté d'Agronomie".

Der Auftakt könnte gegensätzlicher kaum sein: Hier der Campus der Hochschule Rhein-Waal in Kleve – klare Linien, Glas, Beton, Wissen in Modulhandbüchern. Dort Cotonou, Benins Wirtschaftsmetropole – Hupkonzerte, Grillduft, feuchte Erde, Mopeds im Zickzack. Dazwischen rund 5.000 Kilometer Luftlinie und ein Kosmos an Erfahrungen, den 23 Studierende und fünf Professoren der Fakultät Life Sciences und Gesellschaft und Ökonomie für zwölf Tage zu ihrem Hörsaal machen.

Es ist kein touristischer Ausflug, sondern eine Expedition ins Konkrete. Im Zentrum steht, was in keinem Syllabus steht: der Perspektivwechsel. Professor Matthias Kleinke bringt das Ziel auf den Punkt: Lernen, das nicht in der Theorie stehenbleibt. Annahmen prüfen, Nuancen erkennen, Zusammenhänge spüren. Was passiert, wenn ein akademischer Lehrplan die geschützten Räume verlässt und auf die komplexe, widersprüchliche, faszinierende Realität Westafrikas trifft? Diese Reise gibt Antworten.

Die Hochschule pflegt seit Jahren Kontakte nach Subsahara-Afrika. Benin bot ein Netzwerk, das Türen öffnete. Eine Schlüsselfigur ist Achille Assogbadjo, der im Rahmen des renommierten Georg-Forster-Forschungspreises 2023 der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an der HSRW war und heute Professor an der Université d’Abomey-Calavi ist. Mit ihm wird aus Besuch Austausch: Zugang zu Unis, Projekten, Gesellschaft – ein Gespräch auf Augenhöhe statt Programmpunkt.

Die wissenschaftliche Brücke: der Baobab. Der Affenbrotbaum steht im Zentrum der Projekte BaoFood und BaoQuality. Sie verfolgen die gesamte Wertschöpfung – Ökologie, genetische Vielfalt, nachhaltige Ernte, Vermarktung seiner nährstoffreichen Früchte. 

Ziel: Ernährungssicherheit in trockenen Regionen stärken und Einkommen lokaler Gemeinschaften stabilisieren. Anwendungsorientierte Forschung, die Ökologie mit Ökonomie verbindet – so die DNA der Hochschule. Die Exkursion war bewusst interdisziplinär angelegt. Neben Studierenden fast aller Fachrichtungen der Fakultät Life Sciences reisten auch Studierende der Internationalen Beziehungen sowie des Studiengangs Gender and Diversity mit. Diese Mischung schärfte den Blick. Landwirtschaft, Entwicklung, Traditionen, Klimawandel – hier nicht als Einzelthemen, sondern als Geflecht. Die Universität, international und praxisnah, verlagert ihren Auftrag für zwölf Tage ins Feld.

Rund 45 Kilometer nordwestlich von Cotonou wächst auf roter Erde und zwischen Palmen ein Projekt, das Benins Zukunft neu sortieren will: die Glo-Djigbé Industrial Zone (GDIZ). Auf 1.600 Hektar entsteht, in Partnerschaft zwischen dem Staat Benin und dem panafrikanischen Entwickler ARISE IIP, ein Industrie- und Logistikhub von seltener Ambition. Die Idee ist so simpel wie radikal: Schluss mit dem Modell, Rohstoffe billig zu exportieren und die Profite der Weiterverarbeitung andernorts zu lassen. Benin will die nächsten Schritte der Wertschöpfung im Land halten. Statt Rohbaumwolle: „Handtücher für die Welt“. Schon heute laufen Textilmaschinen, werden Keramikfliesen produziert – Anschauungsunterricht in Entwicklungsökonomie.

Die GDIZ denkt in Ökosystemen: Industrieanlagen, Gewerbe- und Wohnflächen, Logistik, eigenes Containerterminal, Lkw-Park, Strom- und Wasserversorgung. Ein „Guichet Unique“ bündelt 13 Behörden, um Verfahren zu straffen. Fokusbranchen: Verarbeitung von Cashew, Soja, Ananas; Textil von Spinnerei bis Konfektion; Holzverarbeitung; Montage von Elektronik. Ein Statement ökonomischer Souveränität – und eine Einladung, alte Nord-Süd-Erzählungen zu überprüfen.

Zur Moderne gesellt sich die Tradition. Wer mit einer großen Gruppe in Benin ankommt, lernt schnell das Protokoll: Zuerst zum König, um sich anzumelden und um Segen zu bitten. Die Höfe sind farbenprächtig; der König sitzt unter einem kunstvoll verzierten Schirm – mit Insignien, nicht mit „Marken“-Logo. Rituale inklusive: ein gemeinsamer Schnaps als Zeichen des Respekts.

Diese Könige sind keine absolutistischen Herrscher. Ihre Autorität ist sozial und gesellschaftlich. Sie vermitteln, schlichten, geben Rat – eine niedrigschwellige Justiz, kulturell verankert und oft näher am Alltag als staatliche Institutionen. Ihre Legitimität ist spirituell grundiert: Nicht Erbfolge entscheidet, sondern das Orakel.

Wie komplex diese Ordnungen sind, zeigte ein Hof mit König und Königin, die nicht verheiratet waren und einander niemals begegnen durften. Der König mit eigener Frau; die Königin mit vor allem religiösen Aufgaben. Benin ist eine parlamentarische Demokratie – und zugleich ein Land mit hybrider Governance. Moderne Verwaltung und alte Autorität arbeiten nicht gegeneinander, sondern miteinander. Das schafft lokale Legitimität und Resilienz, die kein Zentralstaat allein erzeugen kann.

Wer vom Niederrhein kommt, blickt zunächst irritiert auf Benins Felder. Keine akkuraten Rechtecke, sondern Vielfalt in Etagen: Agroforst. Orangenbäume oben, darunter Ananas; Schatten, Feuchte, Biodiversität – ein System, das chaotisch wirkt und hoch effizient ist.

Märkte sind Pflichtprogramm und Lehrbuch zugleich. Dort liegt die „landwirtschaftliche Biodiversität“ ausgebreitet: Maniok, Yams, Mais; Mangos, Kokosnüsse, Ananas. Frisch geschnittenes Zuckerrohr wird probiert, unterschiedliche Ananassorten verglichen. Allgegenwärtig: Cashew, als Baumlandschaft und Exportgut.

Doch die Landwirtschaft steht unter Druck. Regen- und Trockenzeiten verschieben sich, werden unberechenbar; Dürre und Starkregen nehmen zu. In einem Land, dessen Felder vom Regen leben, ist das existenziell. Entwicklungsorganisationen wie die GIZ unterstützen mit Wassermanagement und klimaresilienten Anbaumethoden – Anpassung als tägliche Praxis.

Eine Brücke in die Heimat schlägt der Verein pro dogbo e.V., 2002 in Kleve gegründet. In der Region Dogbo entstanden mit lokalen Partnern und der Studenteninitiative Weitblick aus Münster über 24 Schulen sowie Ausbildungsstätten. In Bäckerei, Kfz- und Metallwerkstatt lernen Jugendliche Berufe, die tragen. Solidarität, die man anfassen kann – und die zeigt, wie eng der Niederrhein mit Benin verbunden ist.

Zwölf Tage, die nachhallen – auch jenseits der Postkartenmotive. Lange Fahrten über holprige Pisten, Regen durchs Busdach, kleine gesundheitliche Haken: Reisealltag in den Tropen. Was bleibt? Für Professor Kleinke zwei Einsichten. Erstens: die Menschen in Benin. Ihre Flexibilität, Lebensfreude, die Gelassenheit im Angesicht des Schwierigen. Niemand jammert – ein stiller Kontrast zur deutschen Grundstimmung.

Zweitens: die Gruppe selbst. Über zwanzig junge Menschen aus elf Nationen, die reisen, lernen, streiten, lachen. Wie mühelos die Welt funktionieren kann, wenn man einen Draht zueinander findet. In Zeiten der Polarisierung wurde diese Reisegruppe zum kleinen Gegenentwurf – ein Beweis, dass Neugier und Respekt die stärksten Gegengifte gegen Vorurteile sind. Am Ende zählen Exkursionen wie diese zu den Highlights eines Studiums. Der Koffer eines Professors kam zwar erst am vorletzten Tag an. Doch das eigentliche Gepäck wog bei der Heimreise mehr: eine erweiterte, differenzierte, nachhaltig veränderte Sicht auf die Welt – und auf den eigenen Platz in ihr.