„Die Ukrainer*innen wollen selbstständig und frei von Russland sein“: Rückblick auf die Konferenz ‚Gender, Civil Society, and Women’s Movements in the Context of Russia’s War on Ukraine‘

Beinahe ein Jahr dauert der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine bereits an und ist Gegenstand unterschiedlichster, auch wissenschaftlicher Debatten. Bei der Konferenz ‚Gender, Civil Society, and Women’s Movements in the Context of Russia’s War on Ukraine‘, organisiert von Prof. Dr. Eva Maria Hinterhuber der Hochschule Rhein-Waal und PD Prof. Dr. Gesine Fuchs von der Hochschule Luzern, wurde der Krieg aus der Geschlechterperspektive analysiert.

Bildnachweis (von links nach rechts): Dr. Andrea Zemskov-Züge, Galyna Kotliuk M.A., Dr. habil. Olena Strelnyk, PD Prof. Dr. Gesine Fuchs und Prof. Dr. Eva Maria Hinterhuber ©Marie Reintjes

Prof. Dr. Eva Maria Hinterhuber betonte eingangs, wie wichtig bei der Analyse des Krieges der Einbezug einer Geschlechterperspektive sei, da Putin zur Rechtfertigung der Invasion eine Geschlechterpolitik propagiere, die sich speziell gegen LGBTIQ+-Rechte richte. Die Themenschwerpunkte der Konferenz lagen insbesondere auf den Rechten und der Wahrnehmungen der Frau und LGBTIQ+-Personen sowie dem Feminismus in der Ukraine und Russland. Ein weiterer Schwerpunkt war die Bedeutung des Dialogs in Kriegszeiten und die Willkommenskultur in Bezug auf ukrainische Flüchtlinge.

Dr. habil. Olena Strelnyk von der TU München referierte in ihrer Keynote über den Effekt, den der Krieg auf die zivilen und politischen Rechte von Frauen hat. Strelnyk betonte, dass traditionelle Geschlechterrollen im Krieg nochmals verstärkt werden. Frauen würden nicht im gleichen Ausmaß wie Männer bewaffnet, es sei überwiegend das Schicksal von Männern, zu kämpfen und für das Land zu sterben. Für Frauen sei der Umfang unbezahlter Care-Arbeit durch den Krieg zusätzlich erhöht worden, da die staatliche Kinderbetreuung in großen Teilen nicht mehr möglich sei und sie auch die emotionale und schulische Betreuung übernehmen müssten. Auch die öffentliche Wahrnehmung von Frauen sei zu Kriegszeiten stark hinter die Wahrnehmung der Männer gerückt, da die Einteilung in ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Bürger*innen davon abhänge, wie sehr man in die Kampfhandlungen involviert sei. In diesem Zusammenhang nähmen auch Forderungen zu, sich als Frau in Politik oder Verteidigung einsetzen zu können, da in der Ukraine Frauen in den Parlamenten aller Ebenen noch stark unterrepräsentiert seien.

Yulia Gradskova der Södertörn University aus Schweden beleuchtete die Geschichte und Stellung der Frau in Russland. Russland verfolge einen antifeministischen und stark traditionellen Ansatz, der als Maternalismus bezeichnet würde und schon in der europäischen Geschichte für progressive heterosexuelle mütterliche Weiblichkeit stehe, so Gradskova. Die Frau diene dem Staat, um arbeitende Bürger*innen großzuziehen. Dabei stünden verschiedene traditionelle Ansprüche an die Frau im Vordergrund, wie die Geburt vieler Kinder und die Rolle der Fürsorgenden. Im Gegensatz dazu bestünden wenige Erwartungen an die Männer und den Staat in Bezug auf die Unterstützung von Müttern. Ziel sei es zudem, die Kinder patriotisch aufzuziehen.

In der Ukraine gäbe es ebenfalls Webseiten und organisierte Werbung, die traditionelle Werte unter ukrainischen Frauen im Sinne des ‚Russki Mir‘ verbreiten sollen. Aber nicht nur kirchliche Organisationen verbreiten diese traditionellen Werte, sondern beispielsweise auch eine staatlich unterstützte russische Frauenorganisation mit dem Namen ‚Woman of Russia‘. Diese Werbung trete auch mit Verbindung mit der Unterstützung des Krieges auf, wo insbesondere die Ehrung von Müttern und besonders von Müttern mit vielen Kindern propagiert werde. In Russland werde seit Kriegsbeginn die staatliche Unterstützung für traditionelle Familien deutlich verstärkt, so erhielten Mütter mit mehr als zehn Kindern zum Beispiel zehn Millionen Rubel, umgerechnet knapp 13.000 Euro, und es gäbe entsprechende Feiertage. Zudem würden die Frauen aufgrund der demografischen Veränderung für die Kriegs- und Wirtschaftsressourcen verantwortlich gemacht. Alles erinnere an die Vorbereitung auf einen imperialen Krieg, wie in den 30er Jahren. Allerdings stehe dieser Propaganda die feministische Anti-Kriegs-Widerstandsbewegung gegenüber, die besagt, „wir bringen die Kinder auf die Welt, also sind wir auch für deren Überleben und Wohlergehen verantwortlich.“

Auch Dr. Vanya Solovey von der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Transgender Europe (TGEU) beschäftige sich mit dem Thema der Feminist*innen in Russland. Die feministische Bewegung sei vor dem Krieg in Russland eine wenig formalisierte Bewegung ohne Führung gewesen. Eine Auseinandersetzung mit Dekolonialisierung habe vor dem Krieg kaum stattgefunden. Nach Kriegsbeginn waren russische Feminist*innen eine der ersten Gruppen, die einen Anti-Kriegs-Widerstand leisteten und sich frühzeitig mit der Ukraine solidarisiert haben. Der Anti-Kolonialismus werde nun mit dem Anti-Kriegs Widerstand gleichgesetzt.

Eine antikoloniale Rhetorik finde sich allerdings auch zeitgleich in der Propaganda Russlands wieder. Russland stelle sich als Opfer des Westens dar, von dem es in Form von Sanktionen kolonialisiert werde. Die Sanktionen werden als Gewaltakt und inhumane Handlungen des Westens präsentiert. Neben den pro-ukrainischen Feminist*innen in Russland gäbe es zudem Feminist*innen, die die russische Regierung unterstützen und deren imperialistisches Gedankengut teilen, zudem die Ukraine als amerikanisch kontrolliert ansähen und vor diesem Hintergrund ukrainische und russische Feminist*innen angreifen. Diese radikalen russischen Feminist*innen verbreiten wie die russische Regierung Verschwörungserzählungen, nationalistische und Anti-Trans-Propaganda. Allerdings zeige sich dadurch auch, dass in Russland eine Debatte über den Antikolonialismus laut werde.

„Heute überwiegt die Meinung, dass man jeden Tag sterben könne, und dass somit alle die Möglichkeit haben sollen, zu lieben, wen man wolle“ – gesellschaftliche Diskussion in der Ukraine im Wandel

Neben dem Wandel der Rolle, der Wahrnehmung und Propaganda in Bezug auf die Frau in der Ukraine und in Russland zeige sich auch eine deutliche Veränderung in der Wahrnehmung der LGBTIQ+-Community in der Ukraine. Laut Strelnyk habe sich insbesondere die gesellschaftliche Diskussion in Bezug auf Homosexualität und gleichgeschlechtliche Partnerschaften im Vergleich zur Vorkriegszeit in der Ukraine stark verändert. Deren Akzeptanz sei deutlich gestiegen, und es gäbe auch innerhalb des Militärs Aktionen für LGBTIQ+-Personen. Heute überwöge die Meinung, dass man jeden Tag sterben könne, und dass somit alle die Möglichkeit haben sollen, zu lieben, wen man wolle, und dies auch rechtlich geregelt werden müsse.

Olena Strelnyk betonte, dass besonders die homophobe und Antigender-Propaganda von Russlands Präsidenten Wladimir Putin, der den Krieg als Kampf gegen den „homosexuellen Westen“ bezeichne, deutlich mache, dass es sich im Krieg auch um einen starken Ideologiekampf zwischen den beiden Ländern handle.

Diese Ansicht folgte auch Galyna Kotliuk M.A. von der Heinrich-Böll-Stiftung in der Ukraine die über die Geschichte der Ukraine im Spannungsfeld zwischen russischem Kolonialismus und westlichem Orientalismus referierte und dabei zusätzlich den Blick des Westens auf die Ukraine in den Fokus gestellt. Die Ukraine sei vom Westen aufgrund seiner kolonialen und sowjetischen Vergangenheit als schwaches Land eingestuft worden. Der russische Kolonialismus habe die Ukraine als singendes und tanzendes, aber ungebildetes Stück von Russland dargestellt – ein Bild, das so ebenfalls vom Westen übernommen wurde, sagte Kotliuk. Auch der Blick auf ukrainische Frauen sei davon geprägt. Allerdings würden ukrainische Frauen und Teile der LGBTIQ+-Szene trotz des Krieges vor Ort bleiben und freiwillig arbeiten. Galyna Kotluik beschrieb den Krieg auch als antikolonialen Krieg, durch welchen sich die Ukraine sämtlichen russischen Einflusses entledigen wolle. Dies zeige sich auch in den unterschiedlichen Entwicklungen beider Länder. Während das ukrainische Parlament seit Dezember die Diffamierung von queeren Personen verboten habe, würden deren Rechte in Russland immer weiter eingeschränkt. „Die Ukrainer wollen selbstständig und frei von Russland sein“, so Kotliuk.

Die Nato und EU-Staaten haben sich auf die Seite der Ukraine gestellt - die Bedeutung für die Friedensbemühungen

Dr. Dana Jirous und Dr. Andrea Zemskov-Züge von OWEN e.V. (Berlin) setzten sich mit dem Dialog und Empowerment, heißt: der Ermächtigung von Selbstbestimmung, auseinander. Im Fokus stehe dabei, zu verstehen, warum andere Menschen denken, wie sie denken, und wie dafür wechselseitig Verständnis entstehen könne. Zu Beginn ihres Vortrags wurde zunächst der Kontext in der Ukraine vor 2022 beleuchtet: 2014 die Annexion der Krim und der bewaffnete Konflikt auf dem Donbass und 2015 das Minsker Abkommen. Demgegenüber wurde die Situation nach Februar 2022 gestellt: das Minsk-Abkommen wurde beendet, die russische Invasion, der Krieg war im Gange, und Nato und EU-Staaten haben sich auf die Seite der Ukrainer gestellt. Aber was bedeutet dies für die Friedensbemühungen? Besonders die Legitimität und Relevanz konfliktübergreifender Kontakte und Kooperationen zwischen den Kriegsparteien werde deutlich in Frage gestellt, da nun eine Feindeslogik vorherrsche. Auch die Ausrichtung auf Frauen werde eine andere, da sie in der Wahrnehmung nun zur Unterstützerinnen des Krieges würden, zur Unterstützerinnen der Opfer oder selbst zu Opfern. So verschwänden auch die individuellen und komplexen Bedürfnisse hinter kollektiven Identitäten und Bedürfnissen.

Warum sollten die Dialoge dennoch fortgeführt werden? Wichtig bei dem Dialog zwischen Personen mit unterschiedlichen Perspektiven und Positionen sei es nicht, die anderen Personen von der eigenen Meinung zu überzeugen, sondern zu verstehen, was dahinterstecke. Dies führe dazu, dass Beziehungen aufgebaut werden könnten, wenn Unterschiede anerkannt würden.

Die Vortragenden erklärten zudem ihr Verständnis von Empowerment. Hierbei handle es sich um die Wahlmöglichkeiten und -optionen auf verschiedenen Ebenen, wie zum Beispiel der sozialen und kulturellen Ebene. Allerdings bezöge sich dies nicht in erster Linie auf die Befähigung zu politischer Einflussnahme. Sondern stattdessen auf die Rückeroberung der Interpretationsmacht, die Ermächtigung zum Widerstand und über die Erweiterung der eigenen Denk- und Handlungsspielräume, eigene Entscheidungen treffen zu können.

Die Willkommenskultur gegenüber ukrainischer Geflüchteter

Prof. Dr. Gesine Fuchs von der Hochschule Luzern, setzte sich mit dem Thema der Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten durch Privatpersonen in der Schweiz auseinander, die zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte ein tragendes Element der offiziellen Aufnahmepolitik wurde. Vorläufige Ergebnisse einer laufenden Studie zeigen, dass die Potenziale sozialer Integration groß sind. Die Motive zur Aufnahme von geflüchteten Menschen wurden häufig moralisch begründet und als Akt der Solidarität gesehen, auch die eigene Familiengeschichte spiele eine Rolle. Zum Zeitpunkt der Studie waren bereits 50 Prozent der Ukrainer*innen ausgezogen, davon über die Hälfte in eine eigene Wohnung. Die Erfahrungen sind zu fast zwei Dritteln positiv. Viele Gastfamilien halten nach Auszug Kontakt oder unterstützen die Ukrainer*innen weiterhin.

Prof. Dr. Helma Lutz (Goethe-Universität Frankfurt am Main) und Prof. Dr. Elisabeth Tuider (Universität Kassel), stellten die Unterschiede in der Aufnahme von geflüchteten Menschen aus verschiedenen Regionen fest und forderten eine Realisierung deren Rechte ungeachtet ihrer Herkunft.

Neben den zentralen Themen der Frauen, LGBTIQ+- und Flüchtlingssituation analysierte Prof. Dr. Elizabeth A. Wood vom M.I.T. (USA) die frühen Warnzeichen für den Krieg in der Ukraine aufgrund des Geschlechtersystems in Putins Autokratie. Prof. Dr. Janet Elise Johnson vom Brooklyn College der City University gab einen Ausblick darauf, inwiefern der Krieg Putins gegen die Ukraine Gender Studies von mittel- und osteuropäischen Ländern und Eurasien verändern wird oder verändern sollte. Mit einem Einblick in das laufende Forschungsprojekt von Prof. Dr. Manuela Scheuermann darüber, wie sich der Krieg auf feministische zivilgesellschaftliche Organisationen in der Ukraine auswirkt, endete das zweite Panel.

Zum Abschluss des ersten Konferenztages gab es eine studentische Posterausstellung zum Thema ‚Zivilgesellschaftliche Initiativen im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine‘ mit einem Fokus auf geschlechterpolitische Aspekte und Friedenskonzeptionen.

Insgesamt widmete sich die Konferenz mit ihrem Fokus auf Gender und Zivilgesellschaft Aspekten des russischen Krieges gegen die Ukraine, die in der öffentlichen wie auch wissenschaftlichen Diskussion oft zu wenig berücksichtigt werden. Darüber hinaus eröffneten die Organisatorinnen Eva Maria Hinterhuber und Gesine Fuchs mit der Tagung einen Raum, in dem Wissenschaftler*innen und Teilnehmende aus den verschiedenen auf die eine oder andere Weise involvierten Ländern ihre oft unterschiedlichen Perspektiven äußern und in einen konstruktiven Austausch treten konnten.

Ansprechpartnerin

Prof. Dr. Eva Maria Hinterhuber 

Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Genderforschung

Fakultät Gesellschaft und Ökonomie

Telefon: +49 (0) 2821 80673-390 

E-Mail: eva-maria.hinterhuber@hochschule-rhein-waal.de

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