Interview mit Prof. Dr. Jakob Lempp

Prof. Dr. Jakob Lempp, Professor für Politologie mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen an der Fakultät Gesellschaft und Ökonomie im Interview über das Coronavirus und die Rolle der Europäischen Union in dieser Krisenzeit.

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Warum sind die Reaktionen auf die Verbreitung des neuartigen Coronavirus in Europa so unterschiedlich?

In der Tat reagieren die Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit teils sehr unterschiedlichen Maßnahmen auf die Verbreitung des Coronavirus. Manche Staaten haben nur vergleichsweise geringe Einschnitte des öffentlichen Lebens vorgenommen, wie etwa Schweden oder Lettland; andere Länder, wie Griechenland, Frankreich oder Italien gehen sehr viel massiver vor. Der Hauptgrund dafür ist, dass die Gesundheitspolitik im Wesentlichen nicht in dem Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union liegt. Gesundheitspolitik wird nach wie vor primär auf nationaler Ebene gemacht, die EU kann hier lediglich empfehlen oder unterstützen. Die Aufteilung der Kompetenzen zwischen der EU und den Mitgliedstaaten ist in den Verträgen über die Europäische Union geregelt. Konkret regelt Art. 168 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, dass die EU im Bereich des Gesundheitswesens die Politik der Mitgliedstaaten „ergänzt“ und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten „fördert“, etwa durch die Formulierung von „Leitlinien“. Der Rat der EU kann auf Vorschlag der Europäischen Kommission lediglich „Empfehlungen“ erlassen und die Verantwortung der Mitgliedstaaten für ihre jeweilige Gesundheitspolitik muss gewahrt bleiben. Das bedeutet: Die wichtigsten Akteure in der europäischen Gesundheitspolitik sind die nationalen Regierungen, nicht die EU.

Hat die Europäische Union nichts getan, um die Ausbreitung des Coronavirus in Europa einzudämmen?

Doch! Es wurde beispielsweise bereits Mitte März ein Krisenstab unter der Leitung von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eingerichtet, der die europäische Reaktion auf das Coronavirus koordinieren und Leitlinien entwickeln sollte und auch entwickelt hat. Die EU beteiligt sich unter anderem bei der Heimholung von EU-Bürgern im Ausland, bei der Erarbeitung von Leitlinien zum Umgang mit Tests, bei der gemeinsamen Beschaffung von Schutzbekleidung und Beatmungsgeräten oder bei der Unterstützung von Forschung zu Impfstoffen, Diagnoseinstrumenten oder Behandlungsmethoden. Am stärksten ist die Rolle der Europäischen Union in diesem Zusammenhang jedoch bei den Maßnahmen zur Abpufferung der ökonomischen Folgen des „lockdowns“.

Welche Maßnahmen sind das?

Insgesamt umfasst das Hilfspaket der EU ca. 3,3 Billionen Euro, wobei diese Mittel aus ganz unterschiedlichen Töpfen kommen. Diese Hilfen umfassen ganz unterschiedliche Maßnahmen von Liquiditätshilfen für kleine und mittlere Unternehmen bis hin zu einem Krisenprogramm des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ein Pandemie-Notkaufprogramm im Umfang von 750 Milliarden Euro aufgesetzt. Darüber hinaus lässt die EU im Rahmen der sogenannten „Ausweichklausel“ größere Flexibilität bei der Bewirtschaftung der Haushalte der Mitgliedstaaten zu. Dass gar nichts getan würde von Seiten der EU, kann also wahrlich nicht gesagt werden.

Worum geht es bei dem Streit um die sogenannten „Coronabonds“?

Einige EU-Mitgliedstaaten sind von den Folgen der Coronakrise in besonderem Maße betroffen, etwa Italien und Spanien. Diese Länder müssen nun Schulden aufnehmen, um die Krise zu bewältigen. Für diese Kredite variiert die Höhe der Zinsen zwischen den EU-Mitgliedstaaten, weil Investoren das Risiko für den Ausfall der Kredite je nach Land unterschiedlich einschätzen. Die Idee der sogenannten „Coronabonds“ ist nun, dass die EU-Mitgliedstaaten zur Bewältigung der Coronakrise zumindest vorübergehend gemeinsam Geld an den Finanzmärkten aufnehmen. Einige ohnehin hoch verschuldete und nun zusätzlich durch die Coronakrise hart getroffene Staaten könnten auf diese Weise günstiger Geld erhalten. Und dies wäre auch eine symbolische Möglichkeit, zu zeigen, dass die Staaten Europas in der Krise zusammenhalten und sich solidarisch unterstützen. Andere Staaten, etwa die Niederlande oder auch Deutschland, stehen dieser Idee kritisch gegenüber, da sie befürchten, letztlich für Kredite anderer Staaten mitzuhaften.

Wird Europa gestärkt oder geschwächt aus dieser Krise herauskommen?

Das kann zum jetzigen Zeitpunkt natürlich noch niemand abschätzen. Ich sehe sowohl Gefahren als auch Chancen. Im schlimmsten Fall zerbrechen Eurozone und Europäische Union an dieser Krise. Aber Krisenzeiten waren immer auch Zeiten, in denen die Europäische Union gewachsen ist. Jean Monnet, einer der Gründerväter der EU, hat einmal formuliert: „Europa wird aus Krisen geboren und ist die Summe ihrer Überwindung. Menschen akzeptieren Veränderungen nur, wenn sie mit der Notwendigkeit konfrontiert sind und sie erkennen die Notwendigkeit erst in der Krise.“

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