Interview mit Prof. Dr. Eva Maria Hinterhuber

Gender und Diversität spielen im Kontext von COVID-19 eine zentrale Rolle. Wie gravierend die Folgen der Pandemie ausfallen, hängt nicht zuletzt von Geschlecht, sozialem Status, ethnischer Zugehörigkeit, Alter und Gesundheitszustand ab, und auch davon, in welchem Teil der Welt eine betroffene Person lebt.  

Der Studiengang Gender and Diversity, B.A., sowie das zentrale Gleichstellungsteam der Hochschule Rhein-Waal, Stefanie Aunkofer, Katja Flockau, Imke Hans, Prof. Dr. Eva Maria Hinterhuber, Prof. Dr. Ingrid Jungwirth und Prof. Dr. Tatiana Zimenkova, haben auf die aktuelle Krise mit einer gemeinsamen Veröffentlichung auf der Homepage des Studiengangs geantwortet. Darin wird ebenfalls auf die globale Infragestellung von Gender Studies, die aktuell in Zusammenhang mit Covid-19 steht, eingegangen.

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Prof. Dr. Eva Maria Hinterhuber, Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Genderforschung, spricht über intersektionale Herausforderungen im Zusammenhang mit COVID-19 aus der Sicht von Gender and Diversity Studies

Können Sie einen Überblick darüber geben, was die aktuellen Herausforderungen aus einer Gender- und Diversity-Perspektive in Zeiten von COVID-19 sind?

In den letzten Wochen ist der Zusammenhang von Gender und Diversität im Kontext von Corona in Politik, Gesellschaft und Medien zum Thema geworden. Im Zuge der Maßnahmen zur physischen Distanznahme wird bspw. ein Anstieg häuslicher Gewalt festgestellt. Die geschlechterdifferenzierten Herausforderungen zur Bewältigung des Spagats zwischen Home-Office und Home-Schooling werden diskutiert. Die schlechten Arbeitsbedingungen sowie die ungerechte Entlohnung von weiblich dominierten Berufsgruppen wie die der Supermarktkassiererin, der Altenpflegerin oder der Krankenschwester rücken in den Fokus. Ebenso unter schlechten Arbeitsbedingungen bei niedriger Entlohnung werden die männlich dominierten Lieferdienste erbracht, wobei die Beschäftigten auch hier häufig eine Migrationsgeschichte haben. Es wird betont, dass die Menschen in diesen nunmehr als systemrelevant erkannten Berufen die Gesellschaft zusammenhalten, wie sich gerade in Krisenzeiten zeigt; gleichzeitig wird kritisiert, dass sie sich dennoch in den unteren und untersten Lohngruppen wiederfinden.

Das Schließen der Tafeln im Zuge des Versammlungsverbotes wiederum betrifft die ärmste Bevölkerungsschicht. Personen in prekären Beschäftigungsverhältnissen sind von den wirtschaftlichen Auswirkungen besonders betroffen. Dies gilt umso mehr für Menschen in besonders vulnerablen Situationen, wie zum Beispiel in Flüchtlingslagern.

Gibt es auch Herausforderungen im internationalen Umfeld?

Aus dem Ausland kamen Berichte, dass aufgrund struktureller Benachteiligung im US-amerikanischen Gesundheitswesen People of Color überproportional zu den aufgrund von Corona zu beklagenden Toten gehören. Auch von Übergriffen auf Transpersonen im Kontext von Ausgangsregelungen in Ländern wie bspw. Panama, bei denen tageweise abwechselnd Männer und Frauen das Haus verlassen dürfen, wurde berichtet.

Für die Gesundheitssysteme armer Länder stellt die Pandemie eine noch größere Herausforderung dar, ein Umstand, der auch im Kontext kolonialer Gesellschafts- und Ausbeutungsstrukturen gesehen werden kann, die bis heute nachwirken.

Welche Rolle spielen die Gender and Diversity Studies in der COVID-19-Pandemie?

Das Zusammenspiel von verschiedenen Ungleichheitskategorien zu erforschen und Beiträge dafür zu liefern, wie die negativen Auswirkungen derselben überwunden werden können, liegt im Kern der transdisziplinären Gender und Diversity Studies.

Ziel ist, gleichen Teilhabechancen für alle näher zu kommen. Wie relevant die Zugänge der Disziplin auch im Kontext der COVID-19-Pandemie sind, zeigt sich deutlich an den genannten Themen. Die Hochschule Rhein-Waal hat die Relevanz der Disziplin von Beginn an erkannt und bietet als erste Fachhochschule den Bachelorstudiengang  “Gender and Diversity“ mit starkem Anwendungsbezug an.

Antidemokratische Angriffe auf Gender and Diversity Studies

In der Vergangenheit gab es immer wieder antidemokratische Angriffe auf die Gender and Diversity Studies. Was können Sie über die Akzeptanz der wissenschaftlichen Disziplin berichten?

Gender and Diversity Studies sind nicht erst seit der Corona-Krise Zielscheibe von antidemokratischen Angriffen. Allerdings erleichtern Krisen bekanntermaßen Argumentationen und Wortmeldungen, die emanzipatorische, feministische oder progressive Diskurse als Luxusproblem darstellen. Im Kontext von Corona beförderte bereits Mitte März Cicero-Autor Alexander Kissler das Narrativ, dass an deutschen Universitäten Naturwissenschaften von Politikwissenschaften und Geschlechterstudien dominiert würden. Dabei spricht der Journalist durch das Setzen der letztgenannten Disziplinen in Anführungszeichen diesen ihre Wissenschaftlichkeit ab. Auch die AfD-Fraktion im Bundestag bedient sich der selektiven Gegenüberstellung von Pharmazie und Gender Studies im Hinblick auf den vermeintlichen Nutzen, verknüpft mit dem Urteil, die Gender-Professuren könnten „alle weg“ – und verbunden mit der Forderung, deren staatliche Finanzierung einzustellen.

Der regelmäßig durch Kritik an den Gender Studies bzw. an geschlechtergerechter Sprache in Erscheinung tretende Verein „Deutsche Sprache“ verschaffte sich jüngst mit einem in den Medien breit aufgegriffenen Facebook-Post Öffentlichkeit. Demzufolge fehlten vermeintliche Milliardensummen, die in Deutschland der Erforschung von Geschlecht und der „Geschlechterpolitik“ zur Verfügung stünden, nun den Krankenhäusern und der naturwissenschaftlichen Forschung (darunter der Virologie und Pharmazie). Dies wurde bspw. durch Josef Kraus‘ „Vergesst Corona – Studiert Gender“ auf der Plattform Tichys Einblick aufgegriffen; der Studiengang „Gender and Diversity“ an der Hochschule Rhein-Waal wird hier namentlich genannt.

Nicht nur, dass diese Argumentation auf grotesk unzutreffenden Behauptungen beruht und Zusammenhänge konstruiert, die nicht gegeben sind – sie folgt auch einem bestimmten, hinlänglich bekannten Muster: Sich am zuerst selbst erstellten Zerrbild der Disziplin abzuarbeiten, ermöglicht es, den wirklich wichtigen Fragen auszuweichen, die an den Grundfesten der eigenen Überzeugungen rütteln könnten (Fragen nach der gesellschaftlichen und strukturellen Aufwertung von Sorgearbeit, der gerechten Bezahlung der oben genannten Berufsgruppen, der Orientierung des Gesundheitswesens am Gemeinwohl anstelle finanzieller Gewinnaussichten u. v. a. m.).

Die Notwendigkeit einer umfassenden wissenschaftlichen Perspektive in Corona-Krisenzeiten

Betrifft die mangelnde wissenschaftliche Akzeptanz denn die Geschlechterforschung alleine?

Zunächst verschleiert der alleinige Angriff auf die Geschlechterforschung die Tatsache ihrer Wissenschaftlichkeit und Eingebundenheit in ein weites interdisziplinäres und methodisch kontrolliertes Forschungsfeld. Die Geschlechterforschung ist ein interdisziplinäres Fach, das Theorien und Methoden unterschiedlichster Disziplinen wie Soziologie, Geschichtswissenschaft, Biologie, Politologie, Ökonomie, Medizin usw. vereint und folglich an die methodischen Verfahrensweisen der verschiedenen Disziplinen gekoppelt ist.

Das bedeutet, dass Geschlechterforschung stets den Gepflogenheiten der verschiedenen Disziplinen entsprechen muss. Die Kritik gegenüber den Gender Studies bzw. die Absage von Wissenschaftlichkeit weitet sich dementsprechend auf eine Kritik gegenüber den entsprechenden Disziplinen, deren theoretische und methodische Verortung und auf das gesamte Wissenschaftssystem aus. Somit steht der Angriff auf Geschlechterstudien für eine allgemeine Skepsis gegenüber den Sozialwissenschaft(en) und Wissenschaft im Allgemeinen, die in letzter Konsequenz Ergebnisse von Forschung nach erwünscht und nicht-erwünscht sortiert und mit ideologischen Überzeugungen gleichsetzt.

Wo sehen Sie konkreten Handlungsbedarf, wenn Sie an Gender and Diversity Studies in Bezug auf die COVID-19 Pandemie denken?

Vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Krise von bislang unbekanntem und globalem Ausmaß ist eine umfassende Perspektive in den Wissenschaften erforderlich, die nicht nur in den Natur- bzw. Gesundheitswissenschaften erbracht wird, sondern die Gesellschaft und das Zusammenleben als Ganzes untersucht. Das Gebot der Stunde ist daher die Verteidigung von Gender und Diversity Studies und das Einfordern einer kritischen Auseinandersetzung mit denselben – will man das Feld nicht den Rechtspopulisten überlassen, die sich regelmäßig mit der pauschalen Abwertung von Gender Studies hervortun. Wohin es führen kann, wenn solche Vorstöße unerwidert bleiben, zeigt deutlich das Beispiel des EU-Mitgliedstaats Ungarn, das mit dem Verbot der Gender Studies nicht nur Wissenschaft als solche untergräbt, sondern auch die Ideale liberaler Demokratie wie Gleichberechtigung, Toleranz und Minderheitenrechte unterminiert. Es gilt, wie das Präsidium der Hochschule Rhein-Waal mit Bezugnahme auf Giovanni Boccaccio hervorgehoben hat, der „Vergiftung des gesellschaftlichen Lebens, der menschlichen Beziehungen“ und der „Barbarisierung des zivilen Umgangs“ entschlossen entgegenzutreten.

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